24.05.2021

Das vergessene Paradies 

Es war soweit! Endlich! Ich habe Moana vor gut zwei Jahren explizit für meine Hilfsaktionen angeschafft, den Verein gegründet und seit Jahren daran gearbeitet in Haiti wieder Hilfe leisten zu können. Aber wegen der Pandemie ging im vergangenen Jahr gar nichts. Nun endlich tat sich ein Fenster auf, denn da auch in diesem Frühjahr wegen Corona die Gäste ausblieben, wollte ich die Zeit nutzen um mit den gesammelten Spenden Hilfsgüter einzukaufen und nach Haiti zu bringen. Von Kuba aus ging das im Januar allerdings nicht, da es dort nichts einzukaufen gibt. Und von den Bahamas aus ging das im Februar erst recht nicht, da dort alles viel zu teuer ist. Also bin ich Mitte März von den Bahamas aus Richtung Dominikanische Republik aufgebrochen. Gegen den stetig starken Ost-Wind....das war kein Vergnügen, aber mit der Unterstützung von Stephi und Don waren die 300 Meilen nach drei Stopps und fünf Tagen geschafft.

Die Sicherheitslage war bedenklich
Die grosse Frage war nun ob ich (alleine, meine Crew musste abreisen) weiterfahren konnte. Denn die Nachrichten aus Haiti hörten sich weiterhin nicht gut an (Demonstrationen, Aufstände, Entführungen, Piraterie u.v.m.) Vor allem die Einheimischen in der DR warnten mich ständig, bloß nicht nach Haiti zu fahren. „Das ist viel zu gefährlich, da kannst Du zur Zeit nicht hin", hörte ich immer wieder.
Also habe ich mir und meiner Familie versprochen zumindest nicht alleine aufzubrechen. Aber abgesehen von meinen eigenen Bedenken konnte ich lange keine Crew mit genügend Mut für den Trip finden. Ständig sagten Leute wegen Sicherheits-Bedenken ab. Nicht dass es viel Auswahl gegeben hätte, denn nur Mitsegler die bereits in der Gegend waren, kamen in Frage. Aus Europa flog wegen der Corona-Auflagen noch immer keiner in die Karibik.

Einkaufen bis zum Umfallen
Aber der Küstenklatsch funktionierte und schliesslich habe ich drei Rucksacktouristen gefunden. Julia, eine polnische Ärztin, sowie Marco und Tomas, zwei Italiener. Zu viert haben wir einen Testlauf nach Santo Domingo gesegelt und haben dort fast eine Woche lang eingekauft. Die lange Liste aus dem Waisenhaus versucht abzuarbeiten und noch etliche andere Dinge dazu gepackt. Rollstühle, Wundkissen, Matratzenschoner, High-Protein-Nahrung, Schul- und Bastelmaterialien, Medikamente und vieles mehr. Eine sehr arbeitsreiche Woche. Moana war randvoll bepackt als wir am elften April endlich Kurs auf die Westseite der Insel nach Haiti abgesetzt haben.
Um es vorweg zu nehmen: wir sind wohlbehalten hin und zurück gekommen, haben uns die ganze Zeit über sicher gefühlt und ich würde jetzt keinerlei Bedenken mehr haben. Allerdings: Die Hauptstadt Port au Prince ist ein ganz anderes Pflaster als die kleine Ile a Vache, die wir angelaufen haben. Auf der Insel ist es ruhig und sicher. In die Hauptstadt würde ich auf keinen Fall fahren.

Wiederkehr nach acht Jahren
Es war unglaublich nach so langer Zeit dort wieder anzukommen, zu ankern und sofort belagert zu werden von den Einheimischen. Freunde von damals wieder zu treffen und zu beobachten, was sich alles verändert hat. Es ist wie das Eintauchen in eine andere, weit zurückliegende Welt. Auf der Ile a Vache gibt es keine Autos, keine Elektrizität, kein fliessend Wasser.
Und wir bekamen viel Besuch. Edisson kam mit der vorab angefragt SIM-Karte. Clivens kam sogar mit einem Willkommens-Bier. Wilma bot an unsere Wäsche zu waschen. Kikki und Vildo wollten das Schiff polieren. „Wir sind alle ein bisschen älter geworden", kicherte Wilma, als ich ihr das Foto von ihr und ihrem Mann Doudou gezeigt habe, das in meinem Buch veröffentlich wurde.

Aufregung im Waisenhauss
Am nächsten Tag haben wir uns auf den langen Fussmarsch zum Waisenhaus gemacht. „Bienvenue", begrüsste uns Schwester Rose, die neue Leiterin etwas gestresst. „Ich sollte eigentlich in der Kirche sein, wollte Euch aber unbedingt willkommen heissen. Der Gottesdienst ist spontan angesetzt worden, um für die Priester und Schwestern zu beten, die vor drei Tagen in der Nähe von Port au Prince gekidnapped worden sind", erzählt sie. (Anmerkung: Ende April wurden alle zehn Geiseln wohlbehalten freigelassen. Ob Lösegeld gezahlt wurde, bleibt unklar).

Das Waisenhaus war an dem Vormittag also praktisch leer, wir konnten uns in Ruhe die Neuerungen ansehen und Organisatorisches besprechen.
Zurück zum Schiff ging es dann in halsbrecherischer Geschwindigkeit über Stock und Stein. Mit einem der neuerdings auf der Insel herum knatternden Moto-Taxis. Ich habe auf den Sozius Blut und Wasser geschwitzt, aber meine junge Crew hat mich nur ausgelacht, da sie dies Art des Transports schon aus der DR gewohnt waren.

Landgang auf der Hauptinsel
„Du musst doch persönlich nach Les Cayes, ich komme mit Dir", eröffnete Edisson mir dann bei Ankunft. Edisson kenne ich bereits seit unserem allerersten Besuch 2011 und er hat uns auch jetzt viel beim Organisieren geholfen. Ich wollte aus Sicherheitsgründen eigentlich vermeiden „an Land", das heisst auf die Hauptinsel zu fahren. Aber es wurde verlangt, dass ich doch selber beim Immigration Office meine 80 US Dollar abgebe. Also hiess es morgens um acht die Fähre (ein offenes, mit 20 Personen völlig überladenes Boot mit Outboarder) zu nehmen, die etwa eine Stunde braucht. Dort umsteigen und auf dem Rücken eines Trägers an Land auf einem Müllhaufen abgesetzt werden.
Les Cayes ist busy. Voller Motorräder, Autos, Läden, Menschen, Lärm und Staub. Aber wie ich finde, trotz der derzeitigen Situation auch einigermassen sicher. Aber der Lichtblick des Ganzen war, das ich nach der Immigration-Behörde noch die „Fondation Tous Ensemble" besuchen konnte. Das ist ein Rehabilitations-Zentrum, das Physiotherapie, aber auch Prothesen für die Bevölkerung anbietet und gerade einen extra Raum für Kinderbehandlung eingerichtet hat.
Unsere zweite Vereinsvorsitzende Daniela hatte bereits Kontakt aufgenommen und so wurden wir von der Chilenin Consuelo empfangen, die das Zentrum seit sechs Jahren leitet. Es war sehr interessant zu sehen, wie sie dort improvisieren und sich behelfen, da die meisten Materialien zum Bau von Prothesen nicht erhältlich oder viel zu teuer sind. Ein sehr engagiertes Projekt mit viel zu geringen Mitteln, das sich zu unterstützen lohnt. Sie haben mir alles in Ruhe gezeigt und ich habe mir die finanzielle Situation (haarsträubend) angehört. Wie so viele Institutionen in Haiti wurde das Centrum von einer NGO gegründet, die leider nun nicht mehr existiert oder zumindest nicht mehr hilft. Früher sind die Physiotherapeuten der „Fondation" auch regelmäßig zur Ile a Vache und den behinderten Kindern im Waisenhaus gefahren um dort zu behandeln. Dafür fehlt nun das Geld.

Zeit im Waisenhaus
Am folgenden Tag haben wir dann auf Moana die meisten Dinge für das Waisenhaus zusammengepackt, alles in ein Transport-Boot verladen und sind mit dem ganzen Schwung zum Waisenhaus gefahren.
Als dort alles alles ausgeladen wurde, war die Freude gross. Und da nun auch die Kinder alle anwesend waren, wurden Kinderstühle, Seifenblasen und Fussbälle gleich ausprobiert. Auch Soeur Flora, die das Waisenhaus aufgebaut hat, haben wir getroffen. Sie ist nach wie vor beeindruckend, und die Liebe zu Ohren Kindern ist deutlich spürbar. Durch einen schlecht verheilenden Beinbruch und ihr hohes Alter ist sie allerdings nicht mehr voll im Dienst.
Aber die Waisenkinder haben uns sofort mit Beschlag belegt und mit ihrer offenen Art begeistert. Wir haben den gesamten Tag mit den Kindern verbracht, uns Flechtfrisuren dabei eingehandelt, gespielt, getobt und viel Spass gehabt.
Und wir waren mehrfach im Waisenhaus. Die Kinder haben sich immer auf uns gestürzt. Fragen fragen, Englisch lernen, fangen spielen oder einfach ein bisschen Nähe schenken. Wir waren alle Vier sehr berührt als sie sich mit einem Lied und Geschenken bei uns bedankt haben und der Abschied fiel nicht leicht. Wie sieht die Zukunft für die Kinder aus? Das ist die Frage die sich schnell im Kopf festsetzt.

Unterstützung für das Dorf
Aber auch im Dorf wo wir ankerten, haben wir neue Freunde gefunden und auch dort gibt es viel zu tun. Mit Julia habe ich das Community Centre von Kaye Kok besucht. Es gibt Malkurse, aber zu wenig Leinwand, es gibt Musikunterricht, aber zu wenig Instrumente, es gibt einen Computerraum. „Wir haben viele Monitore und Tastaturen gespendet bekommen, aber keine funktionierenden Rechner", erklärt Exer, der bemerkenswerten engagierte Leiter des Centers.
Auch dort haben wir eine Menge hilfreicher Dinge abgeliefert, die direkt benötigt oder gerecht verteilt werden. Aber Computer hatten wir nicht mehrfach im Gepäck.
Anschliessend haben wir noch eine Schule im Dorf besucht, die ebenso wie die „Fondation" ursprünglich Hilfe erhielt und nun keine Mittel mehr hat. Die Lehrer arbeiten seit drei Jahren ohne Gehalt und die Leiterin brachte ihre Verzweiflung ziemlich klar zum Ausdruck. Kein Geld für Gehälter, kein Geld für Schulmaterialien und die Schüler sollen eigentlich auch einen Beitrag bezahlen (ca 80 €/Jahr), aber viele Eltern haben das Geld einfach nicht.
300 Kinder von 3 bis 17 Jahren werden hier unterrichtet. In Schichten, da weder genug Platz noch genügend Lehrer da sind. Dabei ist Bildung so wichtig für die Zukunft eines Landes.
Es war wichtig sich einige Projekte direkt anzuschauen und zu sehen, wie für den Erhalt gekämpft wird und das noch Hoffnung vorhanden ist, denn viele der jungen Leute sind eher mutlos. Sie wollen Schulen besuchen, für eine bessere Zukunft, aber das Geld für die Ausbildung fehlt.

Medizinische Hilfe war nicht leicht
Wo immer wir unterwegs waren, kamen auch Leute mit Krankheiten auf uns zu und haben Julia um Rat und Medikamente gefragt. Auch im Waisenhaus hat sie einige Kinder untersucht. Allerdings sind Diagnosen oft nicht konkret möglich gewesen, da Fragen sehr unterschiedlich oder widersprüchlich beantwortet werden. Und die Übersetzung aus dem Kreolischen war auch nicht immer ganz einfach. Aber einige unterernährte Kinder bekamen spezielle Kindernahrung von uns und die Mütter Anweisungen. Und oft konnten Infektionen zwar diagnostiziert werden, aber die speziellen Medikamente versuchen wir nun mit weiteren, nach Haiti fahrenden Yachten mitzusenden, da wir sie nicht dabei hatten.

Abgearbeitet
Nach zehn Tagen vor Ort waren wir alle ziemlich müde. Moana wurde permanent belagert von Besuchern und wir hatten keinerlei Ruhepause. Aber wir hatten das Meiste erreicht, alles abgeliefert und verteilt.
In mir blieb ein einerseits zufriedenes Gefühl, viel geschafft zu haben, anderseits die bittere Erkenntnis, dass es nur langsam vorwärts geht in diesem vergessenen Paradies.
Die Erwartungshaltung, dass wir fast alles anbringen, ist weit verbreitet. Täglich kamen zig Leute in ihren Pirogen angepaddelt und fragten nach diesen oder jenen Dingen, die sie doch so dringend bräuchten. „Hello Captain" tönte es den ganzen Tag rund ums Boot aus den Einbäumen. Alle wollten mich sprechen, da sie Geld, meist für die Schule brauchen, oder für eine Medikation oder oder. Die Bordapotheke ist dezimiert, meine gesamte Schnorchel-Maskensammlung ist verschenkt zzgl. derer, die wir extra für Haiti mitgebracht haben. Alle Rucksäcke und Koffer sind verschenkt (ich habe trotzdem vor irgendwann noch mal wieder Deutschland zu besuchen) alle USB-Kabel sind hergegeben und eigentlich haben wir alles verschenkt, was wir nicht sofort zwingend brauchen, denn dort wird einfach alles benötigt. Die Menschen haben keine Arbeit, kein Einkommen, keine Möglichkeit Geld zu verdienen.
Aber sie kommen zurück mit Mangos, Cashewnüssen, Bananenchips, Popcorn, sogar ganzen gekochten Mahlzeiten - mit vielen Geschenken, die sie selber herstellen können.....

Abschied
Als wir schliesslich mit einem lachenden und einem weinenden Auge aufgebrochen sind, waren wir alle sehr berührt von den vielen Begegnungen , aber auch ungeheuer dankbar, für das privilegierte Leben, das uns Europäern in den Schoss gelegt wurde. Nun sind auch die 250 Seemeilen gegen den Wind zurück nach Santo Domingo überstanden, meine Backpacker sind ausgestiegen und ich bin mittlerweile wieder in den Bahamas. Der Weg führte allerdings zwangsweise über die Dominikanische Republik, da der benötigte PCR-Test in Haiti nicht denkbar war. Etwa 1000 Seemeilen, zwei Monate und einige tausend Euro hat meine Haiti Mission damit verschlungen. Das war ganz sicher ein lohnenswerter Aufwand und eine ganz besondere, erneut sehr beeindruckende Reise und ich hoffe so sehr das Haiti bald ein wenig Aufschwung erhält. Ich werde auf jeden Fall zurückkehren.

Danke an alle Unterstützer!
Ein ganz grosses Dankeschön geht explizit auch aus dem Waisenhaus an alle Spender die mit ihrem Engagement diese Hilfsaktion unterstütz haben. Ohne Euch wäre dieser enorme Einkauf und die ganze Aktion nicht möglich gewesen!

Alle Fotos findet Ihr in der Galerie.

Wer für die Kinder spenden möchte, findet Informationen auf islandchildcare.de
Jeder Betrag hilft! Danke!